An dieser Stelle finden Sie beispielhaft einige Zeitzeugen-Fälle mit ihren Geschichten. Es ist auf einer Internetseite jedoch nicht möglich, die menschlichen Schicksale im notwendigen Umfang angemessen darzustellen. Wir laden Sie dazu zu einem Besuch in den Erinnerungsort ein.
Fallbeispiel: Eckart Hübener
In der Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz fand sich auch Eckart Hübener 1981 wieder. Zusammen mit anderen hatte der Berliner versucht, eine Art Unterstützergruppe für die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc zu gründen. Nachdem er auf einer Polenreise Kontakt zu Solidarnosc aufgenommen hatte und man ihm im Gepäck bei der Einreise in die DDR oppositionelle Schriften fand, wurde er festgenommen. 1982 verurteilte man ihn zu 15 Monaten Haft. […] Eckart Hübener schrieb zu seiner Festnahme und zur Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz in seinen Erinnerungen: „Mit dieser in Polen im Sommer 1981 ganz anders und frei gewordenen Hoffnung auf Veränderungen betrat ich den Boden der DDR am Übergang Pomellen/Kolbitzow. Ich hatte kurzzeitig schlicht vergessen, wie sich Beton anfühlt. Die Grenzer fragten, ob ich etwas zu verzollen hätte. Ich schaute seltsam und sagte nichts. Meine mitgebrachten Papiere hatte ich unter dem Hemd, in Schallplatten- und anderen Hüllen des Gepäcks, die 3 Dutzend Abzeichen von Solidarnosc hatte ich in einem Pullover und in einem Zelt fest angesteckt. […]
Klaus und ich wurden 22 Stunden lang durch die Nacht verhört. Dann brachte man uns – übers Wochenende – in die MfS-Untersuchungshaftanstalt (UHA) in der Töpferstraße Neustrelitz, in einen finsteren alten Bau aus der Kaiserzeit und mit lebensgefährlichen Treppen. In diesem Bau sind mehrere Häftlinge gestorben, weil die Wachen nicht in Hörweite waren. Am schlimmsten war der Dreck überall. Die Haftanstalt liegt mitten in der Stadt. Man fährt durch ein völlig unscheinbares graues Tor in der Mauer an der Tiergartenallee, gegenüber dem Schlosskirchenensemble. Leider ist diese denkwürdige Einfahrt zur Hölle inzwischen beseitigt…
Wir wurden hinter dem Altbau ausgeladen. Ich ahnte, dass dies der letzte Moment wäre, wo ich Klaus noch etwas zurufen kann und ich erinnerte mich des braven Soldaten Schwejks, der sich mit seinen Freunden am Tag nach dem Krieg um vier im Kelch, seinem Lokal verabredet. Ich rief Klaus zu: „Am Tag nach dem Krieg, um vier im Kelch – bist du auch da?“ Die Worte fanden Eingang in meine Strafakte und es hieß danach: „Der Häftling H. wurde vermahnt.“ Die Vermahnung war ein Arschtritt mit den Worten: „Haltenses Maul!“ Übers Wochenende geschah nichts, am Montag, den 9.8.1981, legte ich sofort Haftbeschwerde ein, verlangte einen Anwalt und Kontakt zu meiner Familie. Statt dessen fuhr man mich und Klaus in einem winzigkleinen Barkas B 1000, Busform, mit 5 geschlossenen Häftlingskästchen, mit gefesselten Händen auf einem Sitz 50x80cm auf die Autobahn. Ich ahnte: Nach Berlin-Hohenschönhausen.“
Nach: Eckart Hübener: Die eigene Antwort finden. Von der Kraft der Sprache, des Glaubens und der Familie, Rambow 2011, Manuspkript im Besitz des Autors.
Fallbeispiel: Dietrich Conradt
Dietrich Conradt gab sich bei der Eröffnung des Erinnerungsorts am 11. September 2016 als Zeitzeuge zu erkennen und stellte sich spontan für eine Führung bereit. Hieraus entstand ein großer Zeitungsbericht mit seiner Geschichte, den Sie unter Presse finden.
Fallbeispiel: Oswin Quast
Oswin Quast wurde 1938 in Neustrelitz geboren. Hier absolvierte er die Schule und anschließend eine Lehre als Bankkaufmann. Doch eigentlich wollte er Musiker werden. Er hatte von Kindheit auf das Klavierspiel erlernt. 1959 gelang es ihm, einen Ausbildungsplatz an der Musikhochschule in Berlin zu bekommen. Parallel dazu holte er an der Abendschule 1960-1962 das Abitur nach und schloss wenig später die Hochschule als Kontrabassist ab. Nach einjähriger Musikertätigkeit in Frankfurt/ Oder wechselte er in das Orchester am Neustrelitzer Theater. Oswin Quast stand den Verhältnissen in der DDR kritisch gegenüber und hegte den Wunsch, in der Bundesrepublik Deutschland zu leben. Nach einigen Berufsjahren als Musiker wechselte er in den Schuldienst und wurde Musiklehrer. An der Pädagogischen Hochschule Zwickau schloss er nebenberuflich seine Lehrerausbildung ab und arbeitete an einer Neustrelitzer Schule.
1972 entschloss er sich zur Flucht über die tschechoslowakisch-bundesdeutsche Grenze. Nach einer Kur in der DDR fuhr er mit dem Zug in die Tschechoslowakei und übernachtete in Cheb. Dort wurde er bereits beim Versuch, sich der Grenze zu nähern, festgenommen und der DDR-Staatssicherheit übergeben. Über verschiedene Gefängnisse gelangte er in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz. Ende Mai 1972 verurteilte man ihn wegen versuchter Republikflucht zu drei Jahren Freiheitsentzug. Einen großen Teil der Strafe verbüßte er im Gefängnis Cottbus. Nach zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis kaufte ihn die Bundesrepublik Deutschland frei und er konnte ausreisen.
Oswin Quast wurde nach der „Wende“ vollständig rehabilitiert. Er ist Mitglied in unserem Verein und steht als Zeitzeuge gerne für Besuchergespräche zur Verfügung.
Fallbeispiel: Lutz Friedel
Lutz Friedel wurde 1956 geboren. Er wuchs in Neustrelitz auf, absolvierte hier die Schule und arbeitete in verschiedenen Berufen. Mitte der 1970er Jahre entschloss er sich, an der Abendschule das Abitur nachzuholen.
Als der oppositionelle Liedermacher Wolf Biermann 1976 während einer Konzerttournee in der Bundesrepublik Deutschland ausgebürgert wurde, protestierten in der DDR viele Menschen. Wichtige Künstler der DDR unterzeichneten einen Protest-Aufruf, aber auch viele unbekannte Personen kritisierten öffentlich die Biermann-Ausbürgerung. Weniger prominente Kritiker bekamen die ganze Härte des SED-Staates zu spüren, wurden verhaftet, eingesperrt und geheimdienstlich bearbeitet.
Dazu gehörten auch Lutz Friedel und sein Freund, die mit heimlich angebrachten Losungen in Neustrelitz gegen die Ausbürgerung protestiert hatten. Ende 1976 verhaftete die Staatssicherheit beide und sperrte sie in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz ein. Nach 5 Monaten Untersuchungshaft verurteilte sie das Bezirksgericht Neubrandenburg zu drei Jahren (Lutz Friedel) und zwei Jahren (seinen Freund) Freiheitsstrafe. Lutz Friedel saß die Haftzeit im Gefängnis Cottbus ab. Nach seiner Entlassung engagierte er sich weiter gegen die SED-Herrschaft in der DDR. Aufgrund seiner oppositionellen Tätigkeit blieben ihm berufliche Entwicklungen versperrt. Seine Bewerbungen auf ein Studium der Forstwirtschaft wurden abgelehnt.
Lutz Friedel wurde nach der „Wende“ vollständig rehabilitiert.
Fallbeispiel: Torsten Schmidt
Torsten Schmidt wurde 1964 in Bitterfeld geboren, später zog die Mutter mit ihrem ersten Mann, einen NVA-Offizier, nach Torgelow. Hier absolvierte er die Schule. Politisch war er nicht engagiert und auch nicht Mitglied der FDJ, der staatlichen Jugendorganisation. Seinen Berufswunsch bei der Handelsmarine konnte er wegen seiner West-Verwandtschaft nicht verwirklichen, so begann er eine Ausbildung zum Agrotechniker/ -mechanisator.
Die politischen und wirtschaftlichen Zustände in der DDR forderten ihn immer wieder zur Kritik heraus. Er galt als „westlich angehaucht“, weil er sich an der westdeutschen Gesellschaft orientierte; sehnsüchtig schaute er auf die westliche Warenwelt. Warum war das in der DDR nicht möglich? Noch während seiner Lehrzeit stellte er einen Ausreiseantrag. Sofort setzte die Repression ein. Er brach seine Lehrausbildung in Waren/ Müritz ab und musste nach Torgelow zurückkehren. Hier verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit ungelernten Tätigkeiten.In dieser perspektivlosen Situation saß er eines Abends im Januar 1984 mit zwei Freunden, einem Schüler und einem NVA-Angehörigen, zusammen. In ihrem Frust entschieden sie sich spontan, einen Fluchtversuch in die Bundesrepublik zu unternehmen. Sie fuhren mit einem gestohlenen Auto in den Süden der DDR. Beim Versuch, die Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze zu überwinden, wurden sie verhaftet und der DDR-Staatssicherheit übergeben. Nach ersten Verhören in der Stasi-Untersuchungshaft in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) kam Torsten Schmidt in die Untersuchungshaft nach Neustrelitz. Am 1. Juni 1984 verurteilte ihn das Militärgericht Neubrandenburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Seine Haftstrafe saß er bis Juli 1987 im Gefängnis Brandenburg ab. Er wurde durch die Bundesrepublik freigekauft und am 21. Juli 1987 nach West-Berlin entlassen.
Torsten Schmidt wurde am 27.09.2007 teilrehabilitiert. Die Rehabilitierungskammer am Landgericht Neubrandenburg erklärte die Verurteilung wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts für rechtsstaatswidrig und hob diesen Teil der Strafe auf. Für im Zusammenhang mit der Flucht gemachte Diebstähle wurde das Urteil nicht aufgehoben.